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Description

Gedichte müssen sich nicht nur mit den idyllischen Fleckchen des Lebens befassen. Bestimmte Epochen und Autoren neigen auch gerade dazu, das Morbide in den Fokus zu nehmen. Das gilt besonders für die Zeit des Barock - geprägt durch die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges und sein modernes Pendant den Expressionismus. In dieser Folge werden zwei expressionistische Klassiker präsentiert, literaturgeschichtlich eingeordnet und interpretiert.

Kleine Aster (Gottfried Benn)

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.

lrgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster

zwischen die Zähne geklemmt.

Als ich von der Brust aus

unter der Haut

mit einem langen Messer

Zunge und Gaumen herausschnitt,

muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt

in das nebenliegende Gehirn.

Ich packte sie ihm in die Brusthöhle

zwischen die Holzwolle,

als man zunähte.

Trinke dich satt in deiner Vase!

Ruhe sanft,

kleine Aster!

Ophelia I (Georg Heym)

Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,

Und die beringten Hände auf der Flut

Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten

Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.

Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt,

Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein.

Warum sie starb? Warum sie so allein

Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt?

Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht

Wie eine Hand die Fledermäuse auf.

Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht

Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf,

Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal

Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint

Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint

Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.