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Der heutige Text thematisiert den Kalten Krieg aus einer ungewohnten Perspektive: Mit Blick auf die Natur. Auch wenn er in einer politisch vergangenen Periode geschrieben wurde, ist dieser Text nichtsdestotrotz aktuell und übertragbar auf unsere Gegenwart.  

Hans Magnus Enzensberger[1]: das ende der eulen (1960)

ich spreche von euerm nicht,

ich spreche vom ende der eulen,

ich spreche von butt und wal,

in ihrem dunkeln haus.

dem siebenfältigen meer,

von den gletschern,

sie werden kalben[2]zu früh,

rab und taube, gefiederten zeugen

von allem was lebt in den lüften

und wäldern, und den flechten im kies

vom weglosen selbst, und vom grauen moor

und leeren gebirgen.

auf radarschirmen leuchtend

zum letzten mal, ausgewertet

auf meldetischen[3], von antennen

tödlich befingert floridas sümpfe

und das sibirische eis, tier

und schilf und schiefer erwürgt

von warnketten, umzingelt

vom letzten manöver, arglos

unter schwebenden feuerglocken[4],

im ticken des ernstfalls.

wir sind schon vergessen,

sorgt euch nicht um die waisen,

aus dem sinn schlagt euch

die mündelsichern[5]gefühle.

den ruhm, die rostfreien psalmen[6].

ich spreche nicht mehr von euch,

planern der spurlosen tat,

und von mir nicht, und keinem.

ich spreche von dem was nicht spricht,

von den sprachlosen zeugen,

von ottern und robben,

von den alten eulen der erde.

[1]Enzensberger wurde 1929 geboren. Er ist Publizist, Dichter, Übersetzer und politisch engagierter Essayist.

[2]‚Kalben‘ bezeichnet das Abbrechen größerer Eismassen von im Meer endenden Gletschern

[3]Meldetische = Verweist auf militärische Operationszentralen

[4]Feuerglocke = Atompilz

[5]Mündelsicher = Für die Zukunft abgesichert

[6]Psalm = Religiöse Textform