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Rainer Maria Rilke. Vor Weihnachten 1914

1

Da kommst du nun, du altes zahmes Fest,

und willst, an mein einstiges Herz gepreßt,

getröstet sein. Ich soll dir sagen: du

bist immer noch die Seligkeit von einst

und ich bin wieder dunkles Kind und tu

die stillen Augen auf, in die du scheinst.

Gewiß, gewiß. Doch damals, da ichs war,

und du mich schön erschrecktest, wenn die Türen

aufsprangen – und dein wunderbar

nicht länger zu verhaltendes Verführen

sich stürzte über mich wie die Gefahr

reißender Freuden: damals selbst, empfand

ich damals dich? Um jeden Gegenstand

nach dem ich griff, war Schein von deinem Scheine,

doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand

ein neues Ding, das bange, fast gemeine#

Ding, das besitzen heißt. Und ich erschrak.

O wie doch alles, eh ich es berührte,

so rein und leicht in meinem Anschaun lag.

Und wenn es auch zum Eigentum verführte,

noch war es keins. Noch haftete ihm nicht

mein Handeln an; mein Mißverstehn; mein Wollen

es solle etwas sein, was es nicht war.

Noch war es klar

und klärte mein Gesicht.

Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen,

noch war es nicht das Ding, das widerspricht.

Da stand ich zögernd vor dem wundervollen

Un-Eigentum .....

2

(………Oh, daß ich nun vor dir

so stünde, Welt, so stünde, ohne Ende

anschauender. Und heb ich je die Hände

so lege nichts hinein; denn ich verlier.

Doch laß durch mich wie durch die Luft den Flug

der Vögel gehen. Laß mich, wie aus Schatten

und Wind gemischt, dem schwebenden Bezug

kühl fühlbar sein. Die Dinge, die wir hatten,

(oh sieh sie an, wie sie uns nachschaun) nie

erholen sie sich ganz. Nie nimmt sie wieder

der reine Raum. Die Schwere unsrer Glieder,

was an uns Abschied ist, kommt über sie.)

3

Auch dieses Fest laß los, mein Herz. Wo sind

Beweise, daß es dir gehört? Wie Wind

aufsteht und etwas biegt und etwas drängt,

so fängt in dir ein Fühlen an und geht

wohin? drängt was? biegt was? Und drüber

übersteht,

unfühlbar, Welt. Was willst du feiern, wenn

die Festlichkeit der Engel dir entweicht?

Was willst du fühlen? Ach, dein Fühlen reicht

vom Weinenden zum Nicht-mehr-Weinenden.

Doch drüber sind, unfühlbar, Himmel leicht

von zahllos Engeln. Dir unfühlbar. Du

kennst nur den Nicht-Schmerz. Die Sekunde Ruh

zwischen zwei Schmerzen. Kennst den kleinen Schlaf

im Lager der ermüdeten Geschicke.

Oh wie dich, Herz, vom ersten Augenblicke

das Übermaß des Daseins übertraf.

Du fühltest auf. Da türmte sich vor dir

zu Fühlendes: ein Ding, zwei Dinge, vier

bereite Dinge. Schönes Lächeln stand

in einem Antlitz. Wie erkannt

sah eine Blume zu dir auf. Da flog

ein Vogel durch dich hin wie durch die Luft.

Und war dein Blick zu voll, so kam ein Duft,

und war es Dufts genug, so bog ein Ton

sich dir ans Ohr … Schon

wähltest du und winktest: dieses nicht.

Und dein Besitz ward sichtbar am Verzicht.

Bang wie ein Sohn ging manches von dir fort

und sah sich lange um, und sieht von dort,

wo du nicht fühlst, noch immer her. O daß

du immer wieder wehren mußt: genug,

statt: mehr! zu rufen, statt Bezug

in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche?

Schwächliches Herz. Was soll ein Herz aus Schwäche?

Heißt Herz-sein nicht Bewältigung?

Daß aus dem Tier-Kreis mir mit einem Sprung

der Steinbock auf mein Herzgebirge spränge.

Geht nicht durch mich der Sterne Schwung?

Umfaß ich nicht das weltische Gedränge?

Was bin ich hier? Was war ich jung?

Gelesen von Benjamin Lucas.