Ich für meinen Teil schätze die Tugend der Geduld höher als Zeichen und Wunder. Eines Tages also wurde der Amtsnachfolger des ehrwürdigen Honoratus gegen unsern ehrwürdigen Libertinus sehr zornig, so zwar, dass er ihn mit den Händen schlug. Da er keinen Stock zum Schlagen finden konnte, griff er nach einem Fußschemel und schlug ihn damit auf den Kopf und in das Gesicht, so daß das ganze Antlitz geschwollen und blau wurde. Stillschweigend suchte Libertinus, so übel er zugerichtet, sein Lager auf. Es war aber auf den andern Tag in einer Klostersache gerichtlicher Termin anberaumt. Darum begab sich Libertinus nach der Matutin an das Bett des Abtes und bat demütig um den Segen. Da aber der Abt wusste, wie sehr Libertinus von allen geehrt und geliebt wurde, glaubte er, derselbe wolle wegen der Unbill, die er ihm zugefügt hatte, das Kloster verlassen. Deshalb forschte er näher nach und fragte: „Wohin willst du denn gehen?” Libertinus antwortete: „Vater, es ist für das Kloster ein gerichtlicher Termin angesetzt, von dem ich nicht wegbleiben kann; da ich gestern versprochen habe, heute zu kommen, will ich jetzt hingehen.” Da erkannte der Abt vom Grunde des Herzens sein hartes und liebloses Verhalten sowie die Demut und Sanftmut des Libertinus, sprang vom Lager auf, umschlang seine Füße und bekannte, dass er gesündigt und gefehlt habe, indem er einem so großen und heiligen Mann eine so arge Kränkung anzutun wagte. Aber auch Libertinus fiel nieder und warf sich ihm zu Füßen mit der Beteuerung, nicht durch den Zorn des Abtes, sondern durch seine eigene Schuld sei ihm eine solche Behandlung widerfahren. Auf diese Weise wurde der Abt zu großer Sanftmut geführt, und die Demut des Jüngers ward so zur Meisterin des Lehrmeisters.