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Description

Ich möchte natürlich, es sollten auch meine Zuhörer alles ganz so verstehen, wie ich es selbst [in mir] verstehe; und doch fühle ich, daß meine Worte meiner Absicht nicht entsprechen. Dies kommt vor allem daher, daß das Verständnis in der Seele gleichsam blitzartig aufleuchtet, die mündliche Darlegung aber ganz im Gegenteil dazu nur langsam und allmählich erfolgen kann, so daß sich über ihrer allmählichen Entwicklung das Verständnis bereits wieder in die geheimen Falten der Seele zurückgezogen hat. Indessen hinterläßt jenes schnelle innere Erfassen doch in wundersamer Weise gewisse Eindrücke im Gedächtnis, und eben diese Eindrücke dauern in den Silben fort, die wir aussprechen, und aus ihnen entwickeln wir jene Töne und Bezeichnungen, die man Sprache nennt, sei es nun die lateinische oder die griechische oder die hebräische oder irgendeine andere; dabei ist es ganz gleich, ob diese Bezeichnungen bloß gedacht oder auch in Worte gekleidet werden; denn die bezeichneten Ausdrücke selbst sind weder lateinisch noch griechisch noch hebräisch noch irgendeinem Volke eigentümlich, sondern sie sind für den Geist, was die Gesichtszüge für den Körper sind. Der Begriff „Zorn“ z. B. wird im Lateinischen anders als wie im Griechischen und wieder anders in den verschiedenen übrigen Sprachen ausgedrückt: ein zorniges Gesicht aber ist weder lateinisch noch griechisch. Wenn darum einer sagt: „Iratus sum“, so verstehen ihn nicht alle Völker, sondern nur die Lateiner. Prägt sich aber die innere Aufregung sichtbar in seinem Antlitz aus und macht er ein zorniges Gesicht, so erkennen alle, die ihn nur anblicken, daß er zornig ist. Allein auch jene Eindrücke, die das [innere] Verständnis im Gedächtnis zurückließ, lassen sich noch nicht so durch Wort und Ton ausdrücken und der sinnlichen Wahrnehmung des Hörers gleichsam faßbar darbieten, wie sich Gesichtszüge offen und klar ersichtlich darstellen; denn jene Eindrücke haben ihren Sitz im Innern des Geistes, während diese Gesichtszüge außen am Körper erscheinen. Daraus läßt sich ermessen, wie weit unser gesprochenes Wort hinter der blitzschnell aufleuchtenden Erkenntnis zurückbleiben muß, da es nicht einmal mehr jenem eigenen Gedächtniseindruck entspricht.