Liebe Leserinnen und Leser,
auf den Tag genau zehn Jahre ist es nun her, dass die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“ sagte. Gemeint war die große Herausforderung, vor der unser Land stand (und steht), das binnen kürzester Zeit über eine Million Menschen aufnahm.
Zehn Jahre später nur die Frage zu stellen, ob wir es „geschafft“ haben, das wäre zu einfach und ist bereits in vielen Analysen und Leitartikeln geschehen. Natürlich ist vollkommen klar, dass unser Land sich in den vergangenen Jahren stark verändert hat.
Ich wollte Ihnen in diesem Newsletter deswegen keine Perspektive aus Deutschland bieten, sondern eher eine Perspektive auf Deutschland.
Gesprochen habe ich mit dem Präsidenten des renommierten Migration Policy Institute, das seinen Sitz in Washington D.C. hat. Andrew Selee leitet das Institut seit 2017 und ist ein ausgewiesener Migrationsexperte. Zudem lehrt Selee an der Georgetown University (wo ich einen seiner Kurse belegen konnte).
Hören Sie sich das Gespräch hier (auf Englisch) im Podcast an oder schauen Sie es gerne auch als Video auf meinem YouTube-Kanal.
Die wichtigsten Themen des Gesprächs:
Selee über…
…Deutschland, die Flüchtlinge und Angela Merkel
* „Aus einer Außenperspektive betrachtet, denke ich, dass Merkel recht hatte. Den Menschen, die damals gekommen sind, geht es größtenteils gut; ihnen geht es besser als anderen Kohorten in der Vergangenheit. Sie sind größtenteils in den Arbeitsmarkt und in die Schulen integriert, ihre Kinder wachsen mit Deutsch als Sprache auf.“
* „Was mir an Merkels Aussage gefällt, ist, dass sie sich auf die positiven Aspekte der Migration konzentriert hat.“
„Der Arbeitsmarkt wird einen Sog auf Menschen ausüben. Ich glaube, damit haben wir uns noch nicht genügend auseinandergesetzt.“
* „Die größere Frage lautet allerdings: Was macht Deutschland jetzt? Was tun in einer Welt, in der Länder wie Deutschland, die USA, Italien oder Korea Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchen? Der Arbeitsmarkt wird einen Sog auf Menschen ausüben. Ich glaube, damit haben wir uns noch nicht genügend auseinandergesetzt.“
* „Die Formel, die wir alle anstreben, lautet: Wie können wir legale Wege für Menschen schaffen, die aus Gründen der Arbeitsmigration zu uns kommen wollen und die wir auch brauchen? Ob in Deutschland oder den USA – wir brauchen diese Menschen für unsere Arbeitsmärkte. Wie können wir also Wege dafür schaffen, aber gleichzeitig strengere Asylregeln durchsetzen und damit sicherstellen, dass Asyl nicht als Hintertür für Arbeitsmigration genutzt wird?“
…die USA, den Arbeitsmarkt und wie gelungene Integration aussehen kann
* „In den USA erwarten wir, dass die Menschen es aus eigener Kraft schaffen. Das führt wiederum dazu, dass die Menschen schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden. Die Menschen bleiben nicht, wenn sie keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden.“
* „Es gibt zwei Arten, über Integration nachzudenken. Die eine ist, wie sich Einwanderer und die einheimische Bevölkerung mit der Zeit einander angleichen. Meistens passen sich Einwanderer an die Kultur an, in der sie leben, aber sie verändern auch die Kultur um sich herum, sodass es zu einer gewissen Anpassung in der Gesamtbevölkerung kommt.“
„Die eigentliche Frage lautet: Haben die Kinder der Einwanderer die gleichen Chancen wie die Kinder der Einheimischen?“
* „Die andere Art der Integration ist das, was wir tatsächlich messen können. Also, inwieweit gleichen sich Einwanderer in bestimmten Merkmalen (wie z.B. beim Einkommen oder der Bildung) an? Und wahrscheinlich noch wichtiger als das, was mit den Einwanderern geschieht, ist das, was mit ihren Kindern geschieht.“
* „Die erste Generation der Einwanderer hat oft ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem neuen Lebensumfeld, da sie oft erst in einem späteren Lebensabschnitt einwandert, in dem es schwieriger ist, sich zu verändern. Die eigentliche Frage lautet: Haben die Kinder der Einwanderer die gleichen Chancen wie die Kinder der Einheimischen?“
…die großen Trends und Herausforderungen beim Thema Migration
* „Es ist wichtig, das Tempo des Wandels und der Veränderung anzuerkennen. Nicht, weil Wandel etwas Schlechtes ist. Ich glaube sogar, dass es uns Menschen gut tut, anderen zu begegnen, uns weiterzuentwickeln und anzupassen. Das haben wir als Spezies im Laufe der Geschichte immer getan.“
* „In einer idealen Welt achten wir auf das Tempo des Wandels. Wir holen Menschen hauptsächlich aus Interesse an Arbeitskräften ins Land und wir konkurrieren um Talente. Natürlich holen wir auch schutzbedürftige Menschen ins Land, aber wir treffen die Entscheidungen darüber idealerweise früher und nicht erst an der heimischen Grenze.“
„In Wirklichkeit wird sich das alles viel chaotischer entwickeln.“
* „Meiner Meinung nach wird sich das allerdings in Wirklichkeit alles viel chaotischer entwickeln. Zum Teil, weil niemand wirklich die Weitsicht hat, um die legalen Migrationswege zu ebnen.“
* „Wir werden einerseits eine schrittweise Ausweitung der legalen Migrations-Möglichkeiten sehen, die den nationalen Eigeninteressen entsprechen. Wir werden aber auch viel Chaos und Widerstand in Bezug auf Identität und Ordnung sehen und mit Blick auf Menschen, die spontan an Grenzen auftauchen.“
* „Ich glaube, es geht hier nicht nur um Identität. Ich denke, viele Menschen reagieren vor allem negativ auf Chaos. Sie reagieren auch, wenn sie glauben, dass sich Menschen nicht integrieren. Das mag ebenso sehr die Schuld der Gesellschaft sein wie die der Einwanderer.“
* „Das Tempo des Wandels ist enorm. Ich glaube, wir sollten uns nicht wundern, dass Menschen Zuflucht in Identitäten und dem bereits Bekannten suchen. Die Frage ist, wie wir in diesen Identitäten Zuflucht finden und sie gleichzeitig so inklusiv gestalten können, dass sie in einer wirklich mobilen Welt nicht zu einem Abwehrmechanismus werden. Aber wir müssen auch sensibel mit dem Tempo umgehen, in dem dies geschieht.“
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag und einen guten Start in die Woche!
Philipp Sandmann