Die Analyse, die sich über das gesamte Gespräch entfaltet, kulminiert in einer schonungslos düsteren Einschätzung der geopolitischen Lage – nicht nur für die Ukraine, sondern für die internationale Ordnung insgesamt. Die Ausgangsthese bleibt dabei konstant: Der Krieg ist nicht nur ein regionaler Konflikt, sondern das Epizentrum einer tektonischen Verschiebung im globalen Machtgefüge, mit potenziell katastrophalen Konsequenzen.
Im Zentrum der Überlegungen steht die Annahme, dass Russland – militärisch und strategisch betrachtet – versuchen wird, weitere ukrainische Gebiete zu erobern, insbesondere jene Regionen, in denen viele ethnische Russen oder russischsprachige Bevölkerungsgruppen leben. Odessa und Charkiw werden als mögliche nächste Ziele genannt, ergänzt durch zwei weitere Oblaste westlich der bereits besetzten vier. Sollte Moskau dies gelingen, würde Russland über rund 43 % des ukrainischen Territoriums (gemessen an den Grenzen von 2014) verfügen – ein erheblicher territorialer und strategischer Gewinn.
Doch dieser mögliche Sieg wäre kein triumphaler, sondern ein „hässlicher Sieg“, wie der Redner ihn nennt. Ein solcher Sieg hätte zur Folge, dass die Ukraine zu einem dysfunktionalen Rumpfstaat verkomme – politisch geschwächt, wirtschaftlich zerstört, sozial zerrüttet. Ein solches Ergebnis sei keineswegs ein nachhaltiger Frieden, sondern die Grundlage für eine gefährliche „kalte Ruhe“, in der jederzeit neue Eskalationen drohen. Die Möglichkeit eines Rückzugs Russlands im Austausch für ukrainische Neutralität – wie sie vielleicht Anfang 2022 noch existierte – sei heute vollkommen illusorisch. Russland spiele inzwischen „Hardball“, sei also bereit, den Preis für eine aggressive geopolitische Neugestaltung zu zahlen – auch, wenn er hoch sei.
Die nukleare Dimension dieses Konflikts wird dabei nicht nur als Worst-Case-Risiko betrachtet, sondern als reales politisch-strategisches Instrument. Besonders gefährlich wird es laut Analyse in zwei Szenarien: wenn Russland massiv im Krieg zurückgedrängt wird – etwa durch eine erfolgreiche ukrainische Offensive in Kombination mit wirkungsvollen westlichen Sanktionen – oder paradoxerweise auch dann, wenn Russland zwar gewinnt, der Sieg sich jedoch als strategisch wertlos, als „hässlich“, herausstellt.
An dieser Stelle wird die Figur des russischen Strategen Sergej Karaganow eingeführt. Seine Argumentation, dass der Einsatz taktischer Nuklearwaffen notwendig sein könnte, um den Westen zu einem Umdenken zu zwingen, wird nicht als abwegig abgetan, sondern als Ausdruck einer wachsenden strategischen Verzweiflung innerhalb russischer Eliten gedeutet. Karaganow sei nicht daran interessiert, den Westen zu vernichten – sondern ihn mit der Androhung oder begrenzten Anwendung von Atomwaffen zu einem Kurswechsel zu bewegen. Das Ziel: Die Durchsetzung einer neuen Ordnung, in der Russland nicht nur territorial, sondern auch geopolitisch als Sieger hervorgeht.
Doch selbst wenn dies nicht offizielle russische Politik sei – die Möglichkeit, dass ein zukünftiger Machthaber in Moskau diesen Kurs verfolgt, könne man nicht ausschließen. Diese strategische Ungewissheit mache die Lage so gefährlich: Niemand könne vorhersagen, wer in einigen Jahren über die russischen Atomwaffen bestimmt – und ob dieser Mensch bereit ist, den letzten Schritt zu gehen, wenn Russland vor einem für Moskau unerträglichen Patt steht.
Gleichzeitig wird die gegenteilige Perspektive aufgegriffen: Was, wenn die Ukraine militärisch kollabiert? Wenn die ukrainischen Streitkräfte – etwa wie die französische Armee 1917 – innerlich zerbrechen und nicht mehr kampffähig sind? Was, wenn die russische Übermacht so groß wird, dass sich der Westen entscheiden muss, entweder zuzusehen oder selbst militärisch einzugreifen? Besonders Polen wird hier als mögliches Korrektiv genannt – ein Land, das sich möglicherweise gezwungen sieht, auch ohne NATO-Mandat aktiv zu werden. Sollte das geschehen, könnte ein Flächenbrand entstehen, der schließlich die NATO und Russland direkt aufeinanderprallen lässt.
Am Ende dieser Analyse steht kein Hoffnungsschimmer, sondern ein resignativer Blick zurück: Der größte Fehler war es, nicht alles getan zu haben, um diesen Krieg vor dem 24. Februar 2022 zu verhindern. Die Verhandlungen, die möglich gewesen wären, wurden nicht ernsthaft verfolgt. Die politische Arroganz und strategische Kurzsichtigkeit des Westens – so die implizite Kritik – haben zu einem Krieg geführt, dessen Dynamik sich heute nur noch schwer kontrollieren lässt.
Was bleibt, ist das Bild einer Weltordnung am Abgrund. Jede denkbare Entwicklung – Sieg oder Niederlage, Eskalation oder Einfrieren des Konflikts – führt in Szenarien, in denen das Risiko nuklearer Erpressung, regionaler Destabilisierung und systemischer Unsicherheit massiv zunimmt. Der Krieg in der Ukraine, so das bittere Fazit, ist kein Krieg, der „gewonnen“ werden kann. Er ist eine geopolitische Tragödie, deren Folgen noch über Jahrzehnte hinaus wirken könnten. #johnmearsheimer #ukraine #geopolitik