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230713PC Leben unter der Burg 

Mensch Mahler am 13.7.2023

Wenn ich am Morgen die Augen öffne, sehe ich die Burg. Die Sonne steht schon ab 5:30 Uhr am Himmel und strahlt die Burgruine Bad Urach an. Ich schlafe und erwache unter der Burg. 

Menschen sehnen sich nach Sicherheit. Sie brauchen einen Schutzschild. Die NATO soll so ein Schutzschild sein. Und doch ist sie nicht in der Lage, Menschen, die überfallen worden sind, vollständig vor der Aggression und der Gewalt zu bewahren.

Als ich vor knapp zwei Jahren meine Krebsdiagnose bekommen habe, da habe ich den Boden unter den Füßen verloren. Mehr als einmal habe ich das Psalmwort meditiert: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?“ Damals habe ich sie nicht gesehen, die Burg auf dem nahen Berg. 

Am Ende des Tages bleibt ein Text von Rainer Maria Rilke, den ich auf vielen Beerdigungen zitiert habe. In meiner Erkrankung und danach waren es bereits sieben. Am Freitag in einer Woche werde ich für eine liebe Kollegin vom Südwestrundfunk wieder einmal „Herbst“ von Rilke zitieren:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; 

sie fallen mit verneinender Gebärde. 

Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. 

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. 

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. 

Das ist geblieben von meinem Glauben nach Depression, dem Tod meiner Tochter und meiner Krebserkrankung: Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. Jeden Morgen beim Aufwachen sehe ich die Burg. Ich hoffe, bis ans Ende meiner Tage. 


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