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Description

Hochwertige literarische Texte sind selten nur realistisch. Meist enthalten sie Geheimnisvolles, Merkwürdiges, Imaginatives, Figuren oder Wesen, die nicht ganz durchschaubar sind, rätselhaft bleiben, oft auch unheimlich. Das alles gehört seit Jahrhunderten zu spannenden Geschichten, verstärkt seit der Romantik, einer ungeheuer vielfältigen Zeit des phantasiereichen Erzählens. Diese hatte auch Folgen für die Leser, die nun immer empfänglicher wurden für das, was Goethe einst „Einbildungskraft“ genannt hatte. Leser/Hörerinnen ließen sich in der Begegnung mit fiktionalen Werken nun gerne leiten in fremde Gebiete, in eine andere Welt. Eine unheimliche, eine unheimlich schöne, eine abstoßende, eine traumähnliche, albtraumhafte Welt … – die Zuschreibungen sind unendlich. Die Literatur enthält nun einmal nicht weniger als alles.

Ohne die Goethe’sche Einbildungskraft kann Wilhelm Raabes Erzählung „Ein Besuch“ aus dem Jahr 1884 nicht wirken. Das gilt interessanterweise zunächst einmal für die Rezeptionsebene, also für die Leserinnen und Leser, Hörerinnen und Hörer, die – wie der Erzähler zu Beginn betont – offenbar zur Mitarbeit bereit sein müssen: „Helfen uns die Leserinnen selber nicht dabei, so werden wir auf diesem Blatt Papier mit Feder und Tinte wenig ausrichten.“ Darüber hinaus wirkt diese kurze Geschichte aus sich heraus und in sich geheimnisvoll und rätselhaft. Ohne das Element der Imagination ginge sie gar nicht auf. Ein psychologisches Spiel zwischen Erzähler und Leser von Anfang bis Ende. Das wirkt modern und spannend bis zur letzten Zeile. – Es liest Heide Bertram, im emotional anrührenden Finale in drei Stimmlagen. Ein Genuss! Und manchmal auch etwas unheimlich …