In der Medizin spricht man von einem multifaktoriellen Geschehen, wenn es um die Ursachen einer Störung geht. Immer seltener gehen die Forscher von einem einzigen Grund aus, sie sehen eher ein biopsychosoziales Ursachenbündel am Werk, insbesondere bei psychischen Erkrankungen. In der Literatur des 19. Jahrhunderts war das anders. Da werden Figuren von einem Moment auf den nächsten „wahnsinnig“, „verlieren den Verstand“ oder sind nicht mehr erreichbar. Auch in Wilhelm Raabes Erzählung „Im Siegeskranze“ aus dem Jahr 1866 gibt es diesen einen Augenblick, der das Leben einer Frau völlig ruiniert, der sie verändert und von nun an verrückt werden lässt, verrückt vom eigenen Zentrum, aus der inneren Balance geraten. Ludowike heißt sie, und sie ahnte ihr Schicksal schon. Sie schrieb einen Trostbrief an den Vater ihres Bräutigams, als sie vom Tod des Geliebten erfuhr. Gefallen im Befreiungskrieg gegen napoleonische Truppen. Ab diesem einen Moment ist sie eine andere. Sie kehrt sich völlig in sich selbst, wie verkapselt, niemand kann sich ihr nähern. Und es ist kein Zufall, dass von diesem Ereignis ziemlich genau in der Mitte des Textes erzählt wird. Raabe war ein Autor, der sehr viel Wert auf die Gestaltung seiner Werke legte. Und seine Sprache, Symbole, Augenblicks- und Szenenbeschreibungen präzise einsetzte. So auch, wenn wir erfahren, dass die Nachricht vom Tod des Geliebten für Ludowike zugleich Sprachverlust und Schreibverlust bedeutete: „Die Schwester hat schön geschrieben wie der beste Schreibmeister, und ihre Gedanken konnte sie mit der Feder so trefflich hinstellen, dass keiner es besser machen konnte.“ Doch dann, als die Todesnachricht sie erreicht, wird der Brief, den sie verfasste, „mit einem Mal irr“ – „wie die, welche ihn schrieb“.
Erzählen lässt Wilhelm Raabe dieses Familiengeheimnis und vieles drumherum von Ludowikes Schwester, die Zeugin des Geschehens gewesen war. Sie erzählt es der eigenen Tochter – und uns. Anders als Ludowike hat sie ihre Erzählstimme keineswegs verloren, im Gegenteil: Wilhelm Raabe verleiht ihr eine ganz eigene poetische Sprache. Und so traurig, mitleiderregend die Geschichte ist – an keiner Stelle spüren wir banale Sentimentalität. Es liest – ebenfalls unsentimental – Carola von Seckendorff.