Es soll sich in etwa so zugetragen haben: Jakob Michael Reinhold Lenz, im 18. Jahrhundert der neben dem jungen Goethe und wenigen anderen einer der stärksten Vertreter der Sturm-und-Drang-Epoche, war einsam, arm und hoffnungslos, als er seinem Freund Johann Wolfgang nach Weimar folgte – in der Hoffnung, am Hof angestellt zu werden. Es lief monatelang ganz gut, liest man, die aristokratische Gesellschaft mochte seinen Humor. Doch dann sagte er etwas – etwas Unverschämtes wohl, Unziemliches. Was genau, wissen wir nicht. Goethe schrieb jedenfalls von „Lenzens Eseley“, und Lenz wird vom Hof vertrieben. Keine Chance in den höheren Kreisen. Und dann ging es bergab. Schon früher hatte er Krisen durchlebt, jetzt war es offenbar ein psychotischer Schub, der ihn weiter und weiter in die Psychose trieb.
Das ist nur eine Skizze der Vorgeschichte für Büchners Werk „Lenz“. Diese Erzählung – einzigartig in Form und Sprache – basiert auf den Aufzeichnungen des protestantischen Pfarrers und Pädagogen Oberlin, bei dem Lenz unterkam. Und wirklich spürte sein Gast hier nach einer Weile eine beginnende Vertrautheit in der Gemeinschaft mit Oberlin und seiner Frau, eine Art Familienleben, das ihn auch an eigene, positive Erinnerungen führte („ein Weihnachtsgefühl“). Doch diese Phase hält nicht lange an – Lenz’ Leben scheint sich woanders abzuspielen als in der üblichen Wirklichkeit. Er sieht „kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln“ und meint, „er müsse den Sturm in sich ziehen“. Jede noch so subjektive Reflexion wird in dieser Erzählung von Georg Büchner ungeheuer dicht wiedergegeben, ohne jede Bewertung, ohne Kommentar. Die Art des Erzählens wirkt gewissermaßen roh, wie ungeschliffen. Das gibt es so nicht noch einmal in der Literatur. – Der Text stammt aus den Jahren 1835/36 und ist 1839 posthum erschienen. (Büchner starb bereits mit 23 Jahren.) Es liest Ulrich Bärenfänger, heute den ersten Teil, in der nächsten Woche den zweiten.