Es hatte geschneit. Seine Schritte verhalten schnell, der Schnee schluckte die Geräusche buchstäblich auf. Und doch stöhnte die weiße Pracht unter seinem Gang – der Schnee knirschte, es war bitterkalt … Den Schal hatte er fest um den Hals geschlungen und die zerschlissene Ledertasche, in der er die Noten für Orchester und Chor transportierte, fest unter den Arm geklemmt. Es war der 25. Dezember 1734 und er befürchtete, dass es ihm nicht möglich war, mit der ihm angebotenen Sänger- und Musikerschar das Werk - SEIN Werk - zur Zufriedenheit aller präsentieren zu können.
Er schimpfte vor sich hin: „Stadtpfeifer, Studenten und Knaben – ahhhh, wie soll diese menschliche Mischung der Musik gerecht werden?“
Johann Sebastian Bach hatte schlechte Laune und dabei würde er das Weihnachtsoratorium – oder anders gesagt eine Kantate davon, heute präsentieren …
Die schwere Holztür der Leipziger Nikolaikirche ächzte, als er sie aufstemmte, um in das Kirchenschiff einzutreten. Sogleich strömte ihm der Geruch von Kerzenwachs und Kirchenmoder entgegen. …
So oder so ähnlich könnte sich der Premieren-Abend des Weihnachtsoratoriums zugetragen haben …
Johann Sebastian Bach hatte sein Werk, wie im 18. Jahrhundert üblich, nicht komplett neu komponiert, sondern früher entstandene Stücke recycelt - etwa indem er sie mit einem anderen Text versah. Knapp ein Drittel der Nummern aus dem Weihnachtsoratorium stammt ursprünglich aus anderen Zusammenhängen, z.B. aus einer Glückwunsch-Kantate zum Geburtstag von Maria Josepha, Kurfürstin von Sachsen.
Für ihn wie für seine Zeit waren solche Umgestaltungen unter anderem ein Akt der Ar-beitstechnischen Ökonomie.
Für Bach haftete die Musik nicht am Gegenständlichen, denn ihrem Wesen nach war sie seelische Bewegung. Mit der Umtextierung und Ausrichtung auf ein anderes - hier geistliches - Ziel änderte sich das musikalische Wesen, die Emotion, der Ausdruck selbst nicht, allenfalls konnte mit anderen Klangfärbungen, besonderen Vortragsnuancen oder hinzu-tretenden Instrumenten, die Komposition dem neuen Anlass angepasst werden.
Doch das Geniale daran ist: Bachs Musik wirkt trotzdem keine Sekunde lang wie zweitverwertet. Sie passt perfekt zu den Gefühlen und Bildern der Weihnachtszeit.
Sie findet einen Ton, der Tausende Menschen Jahr für Jahr aufs Neue begeistert, ob als darbietende KünsterInnen oder im Publikum.
Deshalb ist das Weihnachtsoratorium von Bach das mit großem Abstand meistaufgeführte Klassik-Werk der Advents- und Weihnachtszeit, zumindest in Deutschland.
Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium verströmt Jubel und Freude wie kaum eine andere Musik. Für viele ist das Oratorium daher fest mit der Adventszeit und dem Weihnachtsfest verbunden.