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Im ersten Kapitel über Beweissysteme wurde Ihnen stolz verkündet, »1+1=2« sei eine der unumstößlichen Wahrheiten der Mathematik. Auch in der Populärmusik wird diese Wahrheit als so evident angesehen, dass die Formel in einem Lied von Frau H. Knef als Begründung dafür herhalten muss, dass man doch lieber küssen und nicht denken solle.

Die Formel »1+1=2« ist allerdings (noch) keine Formel im Sinne der Prädikatenlogik. Weder lassen sich Junktoren noch Quantoren noch überhaupt Variablen entdecken. Man könnte diesen Umstand einfach ignorieren und darauf bestehen, dass die Formel gefälligst irgendwie »umgeschrieben« werden solle mit Hilfe von Relationssymbolen und Variablen und Quantoren. Das wird in der Tat manchmal auch gemacht, ist aber reichlich umständlich und unnatürlich. Viel besser ist es, die Syntax der Prädikatenlogik dahingehend zu erweitern, dass Terme und der Gleichheitstest fester Bestandteil sowohl der Syntax wie auch der Semantik werden. Genau darum geht es in diesem Kapitel.

Wenn man sein mathematisches Glaubensgebäude vollkommen gefestigt hat und den wirklich festen Glauben gewonnen hat, dass 1+1=2 eine unumstößlich wahre Formel ist, so ist man doch etwas indigniert, in einem Mathematiklehrbuch über Topologie zu lesen: »..., wobei in obiger Rechnung benutzt wurde, dass natürlich 1+1=0 gilt...« Wie kommen solch blasphemischen Verse zu Stande? Die Autoren des Buches haben in diesem Absatz im Galois-Körper GF(2) gerechnet -- was im Wesentlichen bedeutet, dass sie nicht bis Zwei zählen können.

Wie dem auch sei, ist 1+1=2 oder doch eher 1+1=0? Stellt man die Frage anders, so ist sie leichter zu beantworten: Gilt R(c,d) oder doch eher R(c,e)? Benutzt man ein Relationssymbol wie R und Buchstaben wie c, d und e, so ist klar, dass die Wahrheit einer Formel von der Welt abhängt. Bei der Formel 1+1=2 hängt es auch von der Welt ab, ob dies der Fall ist -- es fällt uns nur viel schwerer, dies einzusehen, da wir eine vorgefasste Meinung haben, was die Symbole »1« und »+« bedeuten.

Von Vorurteilen müssen Sie sich in diesem Kapitel lösen; und wo Sie schon dabei sind, sollten Sie auch Ihre gut gepflegten sonstigen Vorurteile betreffend das Leben im Allgemeinen kurz überdenken. Wenn in einer Formel ein Symbol wie »1« vorkommt, so bedeutet dies ersteinmal gar nichts. Erst die Welt legt fest, was dieses Symbol konkret bedeutet. Gewissermaßen zufälligerweise kann in einer Welt dieses Symbol auch gerade die natürliche Zahl Eins meinen, das Symbol kann aber sehr gut auch für einen Bierkrug stehen.

Zugegeben, die Trennung in Syntax (Regeln, wie man lustige Symbolfolgen bilden kann) und Semantik (die Lehre davon, was diese lustigen Symbolfolgen so alles bedeuten könnten) wird hier auf die Spitze getrieben. Es wird darauf bestanden, dass die aus drei Symbolen bestehende Zeichenkette 1+1 zwar syntaktisch korrekt ist, aber genauso viel bedeutet wie !@!. Gnädig wird dann hinterher diesen Zeichenkette eine Bedeutung gegeben, unter Umständen wird anerkannt, dass die Zeichenkette 1+1 vielleicht zur Zahl Zwei auswertet, es wird aber darauf bestanden, dass es genauso gut auch die Null sein könnte.