Im Vorlesungsskript zum ersten Kapitel sehen Sie am Rand die ersten Tafeln einer außerirdischen Nachricht. Ja, Sie haben richtig gelesen, einer außerirdische Nachricht. Allerdings nicht von Außerirdischen, sondern an Außerirdische. Diese Nachricht wird seit 1999 verschickt in der Hoffnung, dass Außerirdische sie lesen, verstehen und antworten. Die Kommunikation mit Außerirdischen, die noch nicht auf der Erde vorbeigeschaut haben, ist etwas kniffelig, denn schließlich wird man nicht annehmen können, dass diese, sagen wir, Englisch oder XML sprechen. Deshalb hat man die Tafeln so angelegt, dass sie völlig selbsterklärend sind - zumindest für einigermaßen gebildete Lebensformen, die einen soliden mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe II genossen haben.
Als kleiner Test, ob Außerirdische die Nachricht verstehen werden, stellen Sie sich bitte kurz vor, Sie seien ein Außerirdischer und erhielten diese Nachricht. (Sollten Sie sich sowieso generell für einen Außerirdischen halten, um so besser.) Was könnten die Menschen mit dem Text gemeint haben?
Zunächst fällt ins Auge (sollten Sie ein Auge besitzen), dass der Text irgendwie strukturiert ist. Da gibt es Ansammlungen von schwarzen Punkten und große Flächen von weißen Punkten. Nennen wir die Ansammlungen von schwarzen Punkten doch vorübergehend »Symbole«. Diese Symbole scheinen grob in einem Raster angeordnet zu sein, jedenfalls nicht völlig zufällig. Auch fällt auf, dass sich manche Symbole wiederholen und dass manche zu größeren Gruppen, nennen wir doch »Zeilen«, gruppiert sind.
Solche Beobachtungen sind syntaktischer Natur, wir haben etwas über die Syntax herausgefunden, die von den Absendern der Nachricht benutzt wurde. Das heißt noch nicht, dass wir die Semantik, also die Bedeutung, der Nachricht bereits erkannt haben.
Um etwas über die Bedeutung herauszufinden, müssen Sie kreativ werden. In der ersten Tafel fällt auf, dass im oberen Teil Ansammlungen von dicken Punkten in der Nähe von bestimmten Symbolen stehen. Nehmen wir vorübergehend an, dass diese Symbole Abkürzungen für die Anzahlen der Punkte sind. Diese These über die Semantik der Symbole hält dann auch einer eingehenderen Betrachtung statt.
Wer genügend Science-Fiction-Romane gelesen hat, weiß natürlich, dass bei Nachrichten an Außerirdische früher oder später Primzahlen ins Spiel kommen. Und tatsächlich, im unteren Teil der ersten Tafel finden sich nacheinander die Zahlen 2, 3, 5, 7, 11, 13 und so weiter. Am Ende der ersten Tafel findet sich dann noch 2 gefolgt etwas höher stehend 3021377 gefolgt von einem neuen, unbekannten Symbol, gefolgt von einer 1. Wenn Sie es nicht schon erkannt haben, dann können Sie ja mal über die Semantik der syntaktischen Konstrukte »etwas höher stehend« und dem neuen, unbekannten Symbol nachdenken.
Kehren Sie nun bitte auf die Erde zurück. In diesem Kapitel soll der Unterschied zwischen Syntax und Semantik an etwas bodenständigeren Beispielen aus der Informatik und der Logik herausgearbeitet werden; jedoch werden Sie sehen, dass das Prinzip genau dasselbe wie bei der Nachricht an die Außerirdischen ist: Die Syntax regelt, was man alles prinzipiell hinschreiben darf, die Semantik regelt, was das dann bedeutet.