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Anfang des letzten Jahrhunderts war es dann soweit: Die Mathematiker hatten in Form der Mengenlehre und der Typelehre endlich ein Fundament, auf der sich die gesamte Mathematik mit all ihren Teilzweigen aufbauen lassen konnte. Alles konnte immer weiter zurückgeführt werden bis auf einige grundlegende, zweifelsohne wahre Aussagen. Die Mathematiker Whitehead und Russel machten sich daran, in ihrem epochalen Werk Principia Mathematica aufzuschreiben, wie dies geht. Von der Reduktion auf das Fundament der Mengenlehre wurden selbst die Zahlen nicht verschont, so dass der mathematische Sachverhalt »1 + 1 = 2« dann auch erst nach über hundert Seiten bewiesen wird.

An dieser Stelle fragt sich selbst der gegenüber Formalismen aufgeschlossene Leser besorgt, ob hier nicht gegen das gesetzliche Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen wird und zumindest ein kleines Ordnungsgeld angebracht erscheint um solchen formalistischen Auswüchsen Einhalt zu gebieten. Warum brauchen einige der größten Mathematiker ihrer Zeit hunderte Seiten, um Rechenaufgaben aus der Vorschule zu beweisen?

Der Grund ist letztlich der, dass Mathematiker immer in panischer Angst davor leben, dass einer der mathematischen Sätze falsch sein könnte. Wenn man neue mathematische Sätze beweist, dann benutzt man in aller Regel schon als korrekt erkannte Sätze, die meist auf noch ältere Sätze zurückgehen. Wäre einer der Sätze »weit unten« falsch, so würden die ganzen darauf errichteten mathematischen Satzgebäude wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Deshalb gilt es unter allen Umständen zu verhindern, dass sich auch nur der kleinste Fehler einschleicht.

Selbst wirklich kleine Ungenauigkeiten können weitreichende Konsequenzen haben. In späteren Veranstaltungen werden Sie noch das so genannte P-NP-Problem kennen lernen, das wohl berühmteste ungelöste Problem der Theoretischen Informatik. Da für die Lösung dieses Problems $1.000.000 Belohnung durch das Cray-Institut ausgesetzt wurden, wundert es nicht, dass häufig Leute behaupten, einen Beweis für P = NP gefunden zu haben. Diese Beweise, wenn sie nicht völlig abwegig erscheinen, werden dann von verschiedenen Theoretikern überprüft im Rahmen eines so genannten Peer-Reviews. Ich selbst hatte schon das Vergnügen mehrere solche Beweise auf dem Schreibtisch zu haben. Bei einem davon war der Beweis schon von anderen Leuten grob überprüft worden und es waren zunächst keine Fehler entdeckt worden.

Es hat mich zwei Tage harte Arbeit gekostet, mich in die recht komplexen Überlegungen einzuarbeiten, es wurden auch Ideen aus verschiedensten Teilgebieten der Mathematik genutzt (von denen ich zum Teil nur, höflich formuliert, rudimentäre Kenntnisse hatte). In einem so umfangreichen Beweis (zwölf Seiten in der kurzen Fassung) ist es sehr üblich, um nicht zu sagen notwendig, einige Details wegzulassen. So gab es etwa in der Mitte der Beweises eine umfangreiche Fallunterscheidung, bei der einige Fälle weggelassen wurden, die analog zu den anderen funktionierten. So jedenfalls dachte der Autor des Beweises und ich sah das zunächst genauso. Wenn nun aber ein Satz wirklich monumentale Auswirkungen hätte, dann wird man als Leser auch mal hyperkritisch. Beim dritten Lesen beginnt man dann auch, die weggelassenen Fallunterscheidungen doch im Kopf durchzugehen. Dabei stellte sich dann heraus, dass merkwürdigerweise bei einem dieser Unterpunkte ein Vorzeichen anders hätte sein müssen als bei den anderen. Mit diesem falschen Vorzeichen löste sich dann aber nach und nach der ganze Beweis auf, da alles, was nun folgte, nicht mehr stimmte.

Mathematiker haben in den letzten Jahrtausenden immer wieder die Erfahrung gemacht, dass scheinbar sehr überzeugende Argumente falsch sein können. Sogar Beweise können überzeugend, aber falsch sein. Deshalb hat man schon früh begonnen, sich über formale Beweise Gedanken zu machen. Das sind Beweise, die so strengen Regeln folgen, dass sie prinzipiell sogar von einem Computer überprüft werden können. Gibt es einen formalen Beweis für eine Aussage, so kann man sich das mühselige Fehlersuchen sparen -- die Aussage ist dann einfach wahr. Punkt. Ende der Diskussion. (An dieser Stelle fangen dann übrigens in Form des zweiten Gödel'schen Unvollständigkeitssatzes die Diskussionen erst richtig an, aber das wird für Ihr Studium glücklicherweise vollkommen unwichtig sein.)

Es wird Sie freuen zu erfahren, dass 1 + 1 = 2 mittlerweile formal bewiesen wurde, also zu den unumstößlichen Weisheiten der Mathematik gehört.